Kapitel 1 - Leben in vollen Zügen

Wird er auf die Fahrerei und deren Unbill angesprochen, bringt er gern einen seiner Lieblingssprüche an und antwortet, dass er das Leben seit Jahren in vollen Zügen genieße.

Er könnte ihr natürlich ein Kompliment machen. Etwas Nettes fiel ihm in solchen Situationen immer ein. Ein anerkennendes Wort über Ohrringe, Brosche, Halskette, Nagellackierung, Frisur, Tasche, Halstuch. Frauen gefällt das immer, weil Männern diese Dinge viel zu selten auffallen. Aber das war ihm jetzt zu konventionell.

»Warum lesen sie nicht?«,

Das war nicht gerade originell, aber ein Anfang. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie auf diese Art plumper Anmache reagieren sollte. Nach dem besonders stressigen Arbeitstag heute und der heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Chef, der mal wieder versucht hatte, sie zu tätscheln und dies mit väterlichen Gefühlen für sie begründete, hegte sie keine Lust auf ein Gespräch.

Ich sollte den mal über mein Verhältnis zu meinem Vater aufklären, vielleicht verhielte er sich dann anders. Lesen im Zug war ohnehin nicht ihre Sache. Zu viel Gerede, zu laut; ständig klingelte irgendwo ein Handy. Und wenn wirklich mal Ruhe herrschte, kam ein Kontrolleur, der sie und ihre Jahreskarte schon x-mal gesehen hatte, und wollte diese erneut auf Gültigkeit prüfen. Schließlich raffte sie sich aber doch zu einer Antwort auf. Ihre Fahrt dauere nicht lange genug, um in ein Buch richtig reinzukommen, und wenn das doch mal der Fall sei, ist es ärgerlich, die Lektüre unterbrechen zu müssen. Obwohl er ihre Meinung teilte, denn auch ihn störte die permanente Geräuschkulisse während der Fahrt, ließ er ihren Einwand nicht gelten und hakte nach. Die Frau machte einfach einen interessanten Eindruck und regte seine Gedanken an. Jetzt wollte er wissen, was sie zu Hause lese.

»Neugierig sind Sie ja nicht gerade«, antwortete sie genervt, »dafür aber ziemlich aufdringlich.«

Er entschuldigte das mit seinem Beruf. Er arbeite in den Medien, sei Journalist beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt; da sei das sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Berufskrankheit. Und deshalb habe er auch noch mehr Fragen und bitte sie, dies zu tolerieren. »So, so, Herr Journalist«, sagte sie ironisch und mit abwehrendem Unterton. So, so war einer