Kapitel 1 - Leben in vollen Zügen

das damals vehement abgestritten, ihr aber insgeheim zugestimmt, denn er wusste, dass sie recht hatte. Dabei ging es ihm nicht um Macht über Menschen, sondern um etwas völlig anderes. Mit zunehmendem Alter hatte sich sein Denken mehr und mehr verengt, drehte sich im Kreis. Er las, was ihn bestärkte, war immer weniger offen für Argumente und Ansichten anderer. Gleichzeitig gierte er aber danach, widersprüchlich wie er war, Neues zu erfahren, Situationen zu konstruieren, Gedanken zu denken, die ihm bisher fremd geblieben waren. Je nach Lage war sein Verhalten in solchen Fällen eine Mischung aus raffinierter Manipulation und sensibler Einfühlung. Vor vielen Jahren hatte er bei Charles Baudelaire einen Satz gefunden, der sich unvergesslich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Alles, was ihn noch interessiere, hatte der Dichter seiner Mutter geschrieben, sei, ein Gefühl zu erleben, das keinem ihm bereits bekannten gleiche, gleichzeitig aber alle umfasse, die er kenne. Je deutlicher Arnulf Hülferich fühlte, bei seiner Jagd auf ihm Unbekanntes immer seltener Beute erlegen zu können, umso heftiger stachelte ihn der letztlich unstillbare Wunsch, längst zu einer Marotte geworden, wieder und wieder dazu an, Psychospielchen zu inszenieren. Für jetzt bot sich dafür sogar eine wahre Geschichte an.

»Sie werden es nicht glauben, aber ich bin quasi mit spanischer Malerei aufgewachsen. In unserem Wohnzimmer hing ein gedruckter Wandteppich mit Murillos Melonenesser. Wir hatten zwar noch andere Bilder, aber dieses hat mich besonders angesprochen. Vielleicht 70 auf 50 Zentimeter groß, an vier breiten Schlaufen an einem gedrechselten Holzstab hängend, zierte er die Wand über der Couch. Mit der Zeit hatte er die Farbe verloren und war fast monochrom braun geworden. Er zeigt zwei Jungen: Einer hat eine angeschnittene Melone auf seinen Oberschenkeln liegen. Das fehlende, bereits angebissene Stück hält er in der Hand. Der andere ist gerade dabei, sich blaue Trauben in den Mund zu stopfen. Darum heißt das Bild auch manchmal Trauben- und Melonenesser. Für mich war es lange Zeit der Inbegriff von Spanien. Zwei Rabauken in zerrissener Kleidung geben sich voller Muße dem Genuss des Essens hin. Sie müssen nicht arbeiten, haben alle Zeit der Welt. Oft träumte ich mich vor dem Teppich in dieses Spanien hinein und hatte dabei den Geschmack reifer Melonen auf der Zunge. So hätte ich leben wollen. Heute weiß ich, dass Melonen und Trauben in Spanien